Der Münchhausen-Effekt verdeutlicht die Spannung zwischen den steigenden Ansprüchen der kapital- und eventorientierten Kultur und dem Ringen nach autonomen Zeit- und Denkräumen. Die Erzählung vom Baron Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, entspricht dem Drang, trotz des ewigen Zeitdrucks autonom zu handeln. Die in dieser Ausstellung vertretenen künstlerischen Positionen versuchen dem atemlosen Takt des Spätkapitalismus entgegenzuwirken, ohne dabei jedoch auf pessimistische oder romantisierende Modelle zu verfallen. Der Herangehensweisen der beteiligten Künstler_innen ist der Subtext eines unvollendeten Widerstandes gemein. Die Positionen zeigen sich offen in ihrer Verwundbarkeit, die als Basis für strukturelle Veränderungen begriffen wird. Anstatt sich dem zwanghaften Rhythmus der zeitgenössischen technokratischen Kultur zu unterwerfen, schlagen sie einen subtilen Umsturz und restaurativen Rückzug vor. Dabei wird auf die bewusste Vernachlässigung der Wettbewerbsregeln gesetzt, konventionelle Formen der Zeitmessung und des Gebotes der Ressourceneffizienz werden in Frage gestellt, um eine Idee von Zeit als einem gestaltbaren Prozess des Austausches zu evozieren. Dies unterstreicht die Eigenschaft der Zeit, eine formbare Größe zu sein.
Denkt man an Begriffe wie Arbeitszeit, Freizeit, Projektzeit, Auszeit, Spielzeit, Mittagszeit, Urlaubszeit etc., wird offenbar, dass korrespondierende Zeitpunkte von sozialen und kulturellen Normen geprägt sind. Die Zeitordnung der Moderne, in der jede Zeitsequenz unmittelbar mit einem bestimmten Ort in Relation gesetzt wurde, löste sich in Zeiten der Globalisierung zugunsten einer Pluralisierung auf. Marshall McLuhan schrieb: "Plurality-of-times succeeds uniformity-of-time. Today it is only too easy to have dinner in New York and indigestion in Paris“.1 Die aktuelle Digitalisierungswelle, die kurzlebige Beziehungen begünstigt – ob in Form von Arbeitsverträgen, Gesprächen oder Kooperationen – erzeugt eine Intensität, die im Moment stimulierend und in Folge ermüdend wirkt.
Die ökonomische und politische Infrastruktur der postdisziplinären Gesellschaft begegnet dieser zeitlichen Verdichtung mit der zunehmenden Forderung nach Standardisierung und Kontrolle. Damit technologiebasierte Systeme bedient werden können, greift man zum Werkzeug der Parametrisierung. Komplexe soziale Beziehungen werden in Formeln und Algorithmen transformiert. In den so erschaffenen Matrizen manifestiert sich die Forderung nach fortdauernder Anpassung menschlicher Aktionen und Beziehungen an ein 'externes', mathematisch modelliertes System, das eigene Organisationsstrukturen und Autoritäten hervorbringt. Es wird geordnet, übersetzt, verschoben und vereinheitlicht, manisch produziert und verwaltet. Dabei wird die Zeit, über die das Individuum autonom verfügt, immer knapper. Der langfristige Zweck des Eilens bleibt wage. Fast-burn culture (Peter Sloterdijk), acceleration society (Hartmut Rosa, Armen Avanessian) oder timeless-time (Manuel Castells) sind zeitgenössische Synonyme für diesen Befund. Die Gegenwart scheint aufgehoben, wohingegen immer größere Erwartungen auf der Zukunft lasten. Während die Welt auf diese Art und Weise zunehmend von der Abstraktion, dem digitalen Beat und der Deregulierung erfasst wird, reagiert der Körper mit Desynchronisation und verweist damit auf die durch den chronischen Zeitmangel hervorgerufenen Unstimmigkeiten.
Die in dieser Ausstellung präsentierten Arbeiten hinterfragen die vorherrschende Zeitordnung und stellen sie damit zur Disposition. Sie verrücken das Imperativ der Effizienz und legen ihren Schwerpunkt auf Überlappungen, Retroaktivitäten, Brüche und Loops. Die Künstler_innen veranschaulichen, wie Zeithorizonte neu gedacht und verändert werden können, und wie Beschleunigungstendenzen zu unterlaufen sind. In Zeiten pausenloser Dringlichkeit ermöglichen „neue“ Zeit-Raum-Bezüge die Herausbildung eigener Positionen, was wiederum die Basis für einen fortschreitenden Reflexionsprozess schafft, der zwischen dem Systemischen, dem Körperlichen und dem Technischen oszilliert. Die Künstler_innen kreieren ihre eigenen Zeitvorstellungen, indem sie eine spekulative Zeit einführen, welche der Logik des Spätkapitalismus widerstrebt. Ein Innehalten wird vorgeschlagen, jedoch nicht als Zwang oder verordnete Pause, sondern als dekonstruktives Moment, das Effizienz und Schnelligkeit hinterfragt, wie in den Arbeiten von Luiza Margan (Siesta, 2017), Slaven Tolj (0:0, 2016) oder Jakub Vrba (Apotheke, 2015). Statt einer fortschrittsorientierten zeitlichen Linearität zu folgen, gestalten die Künstler_innen Sam Bunn (FridgeBridge to the Future, 2017), Dušica Dražić / Wim Janssen (Reflection, 2017) und Marko Tadić (Borne by the Birds, 2013) „Mikro-Situationen“, die verschiedene zeitliche Horizonte aufweisen und auf ein Sampling von Vergangenem, Jetzigem und Zukünftigem setzen. Während Veronika Burger (Songs of Fortune, 2015) parallele Zeitspuren und absichtliche Verzögerungen einführt, fokussiert Nika Rukavina (Word Whipping, 2017) auf vernachlässigte Geschichtsnarrative. Irena Sladoje (Pain, 2009), Anna Hofbauer (Ohne Abstand und ohne Kontakt ist kein Objekt möglich, 2012) und Matthias Noggler (amongourselves, 2016) richten ihren Blick auf das Tempo und den Rhythmus sozialer Beziehungen in divergenten sozialen und kulturellen Systemen. In den Arbeiten von Sina Moser / Joyce Rohrmoser (Blablabla, 2012) und Christoph Schwarz / Matthias Peyker (Ibiza, 2016) wird schließlich humorvoll dargelegt, wie engagierte projektbasierte Arbeit, von der innovative Ergebnisse erwartet werden, mit scheinbar regel- und zeitgerechten Konzentrations- und Inspirationsschüben einhergeht. Die gezeigten Arbeiten künden von möglichen Formen des Widerstandes, von der aktuellen Sehnsucht und dem Verlangen nach der Erforschung „verdeckter“ Beats und zeitlicher Dissonanzen.
Text von Anamarija Batista und Ksenija Orelj
Künstler_innen:
Sam Bunn (AT/ UK), Veronika Burger (AT), Dušica Dražić/ Wim Janssen (SRB / BE), Anna Hofbauer (AT), Luiza Margan (AT/ HR), Sina Moser (AT)/ Joyce Rohrmoser (AT), Matthias Noggler (AT), Nika Rukavina (HR), Christoph Schwarz (AT)/ Matthias Peyker (AT), Irena Sladoje (BiH), Marko Tadić (HR), Slaven Tolj (HR), Jakub Vrba (AT/ CZ)
Ausstellungsarchitektur: Darko Miličević
Slaven Tolj, 0:0, 2016, Fotografie
Foto: Slaven Tolj
Dušica Dražić & Wim Janssen, Reflection, 2017, Dokumentation
Foto: Dušica Dražić & Wim Janssen
Dušica Dražić & Wim Janssen, Reflection, 2017, Dokumentation
Foto: Dušica Dražić & Wim Janssen
Matthias Noggler, amongourselves, 2016, Gouache auf Papier
Foto: Matthias Noggler
Anna Hofbauer, Ohne Abstand und ohne Kontakt ist kein Objekt möglich, 2012, Fotografie
Foto: Anna Hofbauer
Anna Hofbauer, Ohne Abstand und ohne Kontakt ist kein Objekt möglich, 2012, Fotografie
Foto: Anna Hofbauer
Irena Sladoje, Pain, 2009, EEG-Blätter
Foto: Irena Sladoje
Jakub Vrba, Apotheke, 2016, Zeichnungen
Foto: Jakub Vrba
Jakub Vrba, Apotheke, 2016, Zeichnungen
Foto: Jakub Vrba
The Munchhausen-Effect
Foto: 5020/Rauchenbichler
The Munchhausen-Effect
Foto: 5020/Rauchenbichler
Nika Rukavina, Word Whipping, 2017 (10.03.2017)
Foto: 5020/Rauchenbichler
Irena Sladoje, Pain, 2009, EEG-Blätter
Foto: 5020/Rauchenbichler
Sam Bunn, FridgeBridge: We Came Out of the Sea, 2017 / Nika Rukavina, Word Whipping, 2017
Foto: 5020/Rauchenbichler
Sina Moser & Joyce Rohrmoser, Blablabla, 2012
Foto: 5020/Rauchenbichler
DUŠICA DRAŽIĆ & WIM JANSSEN, Reflexion, Fotodokumentation des Projektes, 2017
Foto: DUŠICA DRAŽIĆ & WIM JANSSEN
Ausstellungsansicht
Foto: 5020/Rauchenbichler
Luiza Margan, Siesta, 2017 (Detail)
Foto: 5020/Rauchenbichler
Ausstellungsansicht
Foto: 5020/Rauchenbichler